Eine Bühne in der Farbe des Meeres für ein Gespräch über eine Geschichte auf hoher See – selten passte das Thema des »Blauen Sofas« so gut zum Antlitz des Möbelstücks wie am Montagabend im Gütersloher Theater. Bei der nunmehr vierten Ausgabe des literarischen Erfolgsformates in Gütersloh nahm Hanns-Josef Ortheil auf dem »Blauen Sofa« in der ausverkauften Skylobby Platz, um über sein erst vor wenigen Tagen beim Luchterhand Literaturverlag erschienenes Buch »Die Mittelmeerreise« zu sprechen und daraus zu lesen. Das Publikum kam dabei in den Genuss einer Premiere, war es doch der erste öffentliche Auftritt des Bestsellerautors mit seinem neuen, autobiografischen Werk. Als »einen der produktivsten Schriftsteller in Deutschland« begrüßte Barbara Wahlster, langjährige Literatur-Redakteurin beim Deutschlandfunk Kultur, ihren Gesprächspartner auf dem Sofa. Mehr als 40 Romane, Essays, Biografien sowie Dreh- und Sachbücher sind bis dato der Feder Ortheils entsprungen – und sogar noch viel mehr, wie die Zuhörer im Verlauf des Abends erfahren sollten.
In »Die Mittelmeerreise« schildert Hanns-Josef Ortheil seine Erfahrungen und Erlebnisse auf einer Schiffsfahrt, die ihn 1967 im Alter von 15 Jahren an der Seite seines Vaters von Antwerpen aus durch die Meerenge von Gibraltar bis nach Griechenland und Istanbul führt. Der mehrwöchige Aufenthalt an Bord des Frachtschiffes gerät für Ortheil zu einer sehr persönlichen Expedition in die Irrungen und Wirrungen des Übergangs ins Erwachsenenalter. Inmitten der bunt gemischten, teils schrulligen Besatzung und geplagt von Stürmen und Seekrankheit, verarbeitet der junge Mann ein breites Spektrum an bisher unbekannten Eindrücken. Er versucht dabei herauszufinden, welche Sujets ihm Sinn und Orientierung im Leben verleihen könnten. Dabei bewegt er sich im Spannungsfeld zwischen den Schriften Homers und der Bordzeitung, zwischen Johann Sebastian Bach und den Beatles, zwischen dem väterlichen Rat und dem Wunsch nach Selbstständigkeit.
Autobiografische Bücher als Markenzeichen
Autobiografische Werke sind das Markenzeichen von Hanns-Josef Ortheil. »Die Mittelmeerreise« ist nach seinen Bestsellern »Die Moselreise« und »Die Berlinreise« bereits der dritte Roman, den er aus Originaldokumenten seiner Kindheit und Jugend (re)konstruiert hat. Dabei erledigte er den Großteil der literarischen Arbeit schon 1967: »Die Erzählungen in ›Die Mittelmeerreise‹ habe ich damals genauso aufgeschrieben, wie sie nun im Buch erscheinen. Insgesamt hatte ich rund 1.300 Seiten Material von der Seereise«, verriet der Autor. Zusammen mit Notizen und Tagebucheinträgen hat Ortheil seine Erinnerungen zu einer berührenden Rekapitulation seines Erwachsenwerdens collagiert, die den Leser – oder in diesem Fall den Zuhörer – zur Reflexion über die eigene Jugend anregt.
Ein frühes Trauma entpuppte sich dabei im Nachhinein doch noch als wertvoll – zumindest für seine Tätigkeit als Schriftsteller: Weil alle vier seiner Brüder im Zweiten Weltkrieg starben, verfiel die Mutter in permanentes Schweigen. Als einziges überlebendes Kind der Familie wuchs Ortheil in einer sprachlosen Welt auf, was dazu führte, dass er bereits in jungen Jahren täglich seine Beobachtungen genau notierte. Den Mutismus überwand er mit Hilfe des Vaters, berichtete er: »Die Reisen waren im Grunde therapeutische Aktionen. Für die längste dieser Reisen ein Frachtschiff zu wählen, war eine geniale Idee von ihm. Es fuhr so langsam, dass man alles ganz genau wahrnehmen konnte und zugleich bin ich mit vielen Dingen zum allerersten Mal überhaupt in Kontakt gekommen.«
»Meine persönliche Odyssee«
Der erste Kontakt mit anderen Kulturen, der erste Alkoholkonsum, der erste Discobesuch, die ersten Männerfreundschaften, der erste Kuss mit einem Mädchen, der erste Beatles-Song – für den Schüler eines humanistischen Gymnasiums, dessen Kosmos vorwiegend aus altgriechischer Prosa und klassischer Musik bestanden hatte, kam die Reise übers Meer einem Quantensprung in eine neue Welt gleich. »Diese Reise war in vielerlei Hinsicht meine persönliche Odyssee«, erzählte Ortheil auf dem »Blauen Sofa«, in Anspielung auf seine Leidenschaft für Homer.
Das Schreiben stellte für ihn angesichts der Angst vor dem Unbekannten stets das Gegenmittel dar, verriet Ortheil: »Dadurch konnte ich Dinge ordnen und Klarheit in mein Leben bringen, das hat mich schon immer beruhigt.« Als er seinen ursprünglichen Traum einer Karriere als Pianist krankheitsbedingt aufgeben musste, stieg das Schreiben vom Hobby zur Profession auf. Bis heute hält er fast täglich seine Eindrücke und Erlebnisse in Textform fest, seit einiger Zeit auch in der digitalen Sphäre, auf einem eigenen Blog. »Auch über den heutigen Abend werde ich nachher im Hotel etwas schreiben«, ließ er sein Gütersloher Publikum wissen.
Sein lebenslanger Marathon der Textproduktion hat mittlerweile einen Bestand von über 400.000 Seiten hervorgebracht. Diesen archiviert und durchstöbert der Autor in einer Kleinstadt im Westerwald, in der er aufgewachsen ist und die passenderweise den Namen Wissen trägt. Er könne sich gut vorstellen, geschlossene Ladenlokale als Archive und Ausstellungsräume zu nutzen, sagte er schmunzelnd. Zumindest hat Ortheil damit eine mehr als ergiebige Fundgrube für weitere Reiseromane geschaffen.
»Das Blaue Sofa Gütersloh«, das gestern erneut in Kooperation mit dem Förderverein »Theater in Gütersloh« stattfand – fügt sich in eine Vielzahl kultureller Initiativen ein, die Bertelsmann sowohl auf internationaler und nationaler als auch auf regionaler Ebene vorantreibt. Vor Hanns-Josef Ortheil waren der Erfolgsautor Wladimir Kaminer, die WDR-Journalistin Christine Westermann und der Schauspieler Dominique Horwitz zu Lesungen in die Dalke-Stadt gekommen.