Durch die Millenniumsziele ist es gelungen, in vielen Entwicklungsländern spürbare Fortschritte zu erzielen. Wenn die Vereinten Nationen jetzt die neuen globalen Nachhaltigkeitsziele ab 2016 verabschieden, sind erstmals auch die Industriestaaten gefordert, diese Vorgaben zu verwirklichen. Doch die weltweit erste Bestandsaufnahme zeigt: Die meisten Industrienationen sind weit davon entfernt, als Vorbilder für eine nachhaltige Entwicklung zu dienen.
Die meisten Industriestaaten der OECD sind noch nicht fit für das neue Nachhaltigkeitsversprechen der Weltgemeinschaft: Viele sind noch weit davon entÂfernt, die globalen Politikziele zu erreichen, wie sie die Staats- und Regierungschefs auf dem UN-Sondergipfel in diesem Monat beschließen werden. Und bei vielen Indikatoren besteht die Gefahr diese Ziele komplett zu verfehlen. Die größten Defizite weisen die Industriestaaten dabei, in ihrem wenig nachhaltigen Produktions- und Konsumverhalten auf. Außerdem verschärfen ihre Wirtschaftssysteme vielfach den Trend zur sozialen Ungleichheit.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Vergleichsuntersuchung aller 34 OECD-Staaten durch die Bertelsmann-Stiftung anhand von 34 Indikatoren zu den zukünftigen 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals-SDG), die bis 2030 gelten sollen. Dabei handelt es sich um die weltweit erste systematische Untersuchung zum gegenwärtigen Status jedes dieser Länder und im Vergleich der Länder zueinander. Die Momentaufnahme identifiziert zudem sowohl Staaten, die bei einzelnen Nachhaltigkeitszielen Vorbildcharakter haben und wo noch erhebliche Defizite bestehen. Die Studie liefert damit auch eine Blaupause für die Erreichung der SDGs in den nächsten 15 Jahren.
Zu den Ländern, die die neuen UN-Ziele am ehesten erreichen, gehören danach die vier skandinavischen Staaten Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland, gefolgt von der Schweiz auf Platz fünf. Am schlechtesten bewertet werden die USA, Griechenland, Chile, Ungarn, die Türkei und Mexiko.
Deutschland auf Rang sechs
Deutschland erreicht im Vergleich einen relativ guten Platz sechs. Es kann bei zwölf der 34 untersuchten Indikatoren vordere Plätze aufweisen: Insbesondere beim Wirtschaftswachstum, der Beschäftigung, bei Forschung und Entwicklung, durch eine relative geringe Armutsquote, eine vergleichsweise gute soziale Absicherung, eine geringe Zahl von Tötungsdelikten und zahlreiche Naturschutzgebiete. Gleichzeitig weist Deutschland eine Reihe markanter Defizite auf. So produziert jeder Deutsche pro Jahr durchschnittlich 614 Kilogramm Müll, deutlich mehr als der Durchschnitt aller Industriestaaten mit 483 Kilogramm oder beispielsweise Japan mit nur 354 Kilogramm pro Einwohner. Alles andere als nachhaltig zeigt sich hierzulande auch die Landwirtschaft. Mit einem Überschuss von 94 Kilogramm pro Hektar Agrarfläche bei Eintrag von Stickstoff und Phosphor drohen Böden, Luft und Wasser schwer beschädigt zu werden. Hintere Plätze belegt Deutschland zudem auch beim Anteil bedrohter Tierarten, der hohen Ausbeutung seiner Wasserressourcen und bei der Feinstaubbelastung, bei der es gerade einmal den 27. Platz belegt.
Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann-Stiftung stellt klar: »Unsere Untersuchung ist der erste Stresstest für die Industriestaaten zu den neuen Zielvorgaben. Danach können wir uns als reiche Länder mit unserer wachsenden sozialen Ungleichheit und Ressourcenverschwendung nicht mehr länger als die Lehrmeister der Welt darstellen. Wir können den Schwellenländern schwerlich vorgeben, wie sie sich entwickeln sollen. Stattdessen können wir in der Analyse erkennen, wo auch wir unsere Hausaufgaben machen müssen. Und zudem zeigt sie uns, wo die Industriestaaten bereits jetzt Gefahr laufen, die neuen Nachhaltigkeitsziele zu verfehlen«.
Spitzenreiter zeigen die Potenziale für Verbesserungen
In der Untersuchung zeigen sich auch große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern in Bezug auf verschiedene Ziele. Insbesondere die soziale Ungleichheit hat in den Industriestaaten mittlerweile ein Rekordniveau erreicht, mit steigender Tendenz. In 23 OECD-Staaten verdienen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung inzwischen mindestens genauso viel wie die ärmsten 40 Prozent. In den USA sind es sogar das 1,7fache und in Chile das 3,3fache. Dass Ungleichheit keine zwangsläufige Entwicklung sein muss, beweisen Länder wie die Slowakei, Slowenien, Norwegen, Tschechien oder Dänemark. Hier ist die Konzentration der Einkommen deutlich geringer.
Große Unterschiede zeigen sich etwa auch bei der Umweltbelastung. Staaten wie Australien, Kanada, Polen oder Mexiko belasten das Klima mit über sechs Mal so viel Kohlendioxid für jede Einheit an Wirtschaftsleistung wie Schweden oder Norwegen. Auch der Anteil der erneuerbaren Energien schwankt zwischen den Ländern erheblich. Korea, Großbritannien oder die Niederlande nutzen weniger als vier Prozent erneuerbare Energien. Dagegen kommen Island, Norwegen und Schweden bereits jetzt auf einen Anteil von über 47 Prozent und weiten diese Anteile sogar fortlaufend aus, ohne dass ihr Wirtschaftswachstum leidet.
Kofi Annan, der geistige Vater der Millenniumsziele, fordert im Vorwort der Studie größere Anstrengungen von den reichen Ländern der Erde: »Ich danke der Bertelsmann-Stiftung dafür, dass sie die Aufmerksamkeit so detailliert auf dieses Thema gelenkt hat. Diese Studie wird hoffentlich Reformdebatten über Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit in vielen Industrie-staaten entfachen. Wir schulden dies unserem Planeten und seinen Menschen«.
Nach Ansicht von Dr. Christian Kroll, Studienleiter der Bertelsmann-Stiftung, verweisen diese großen Unterschiede auf die erheblichen Möglichkeiten der jeweiligen Staaten bis 2030 substanzielle Fortschritte zu erzielen: »Wenn man die neuen Nachhaltigkeitsziele der UN als Maßstab nimmt, sind alle Länder jetzt Entwicklungsländer. Unsere Vergleichsstudie zeigt aber auch die besten Beispiele und Vorreiter, um ökonomischen, sozialen und ökologischen Fortschritt in Einklang zu bringen«. Christian Kroll, weiter: »Wenn es den Entwicklungsländern gelungen ist, mit Hilfe der Millenniumsentwicklungsziele die Kindersterblichkeitsrate zu halbieren, dann sollten wir von den Industriestaaten verlangen können, mit Hilfe der neuen UN-Ziele ihre eigenen Wirtschaftsmodelle sozial gerechter und nachhaltiger zu gestalten«.
Zusatzinformationen
Zum UN-Sondergipfel New York vom 25. bis zum 27. September 2015 präsentiert die Bertelsmann-Stiftung die weltweit erste Vergleichsstudie zu den neuen globalen Nachhaltigkeitszielen, die anders als die Millenniumsziele nicht nur Vorgaben für Schwellen- und Entwicklungsländer sondern auch für die Industriestaaten aufzeigen. Die Konzeption und Auswahl der Indikatoren fand mit Unterstützung des UN Sustainable Development Solutions Network (UN SDSN) statt, einem Zusammenschluss von Forschungseinrichtungen zur Begleitung der neuen UN-Ziele. Es handelt sich dabei um sehr relevante Marker, die wesentliche Lebensbereiche abdecken und aussage-fähig sind. Die Indikatoren speisen sich auch aus den »Sustainable Governance Indicators« der Bertelsmann-Stiftung, einem Projekt in Zusammenarbeit mit rund 100 internationalen Wissenschaftlern zur Messung der Zukunftsfähigkeit von Industriestaaten.