Mehr als jede zweite Hähnchenfleischprobe (im Durchschnitt 51 Prozent) aus den drei größten Geflügelkonzernen Europas ist mit Resistenzen gegen ein oder sogar gegen mehrere Antibiotika gleichzeitig belastet. Im Schnitt schleppt mehr als jedes dritte Hähnchen (35 Prozent) sogar antibiotikaresistente Krankheitserreger mit Resistenzen gegen Notfall-Antibiotika (Reserveantibiotika) in die Lebensmittelkette ein. Dies sind die alarmierenden Ergebnisse einer heute veröffentlichten Studie im Auftrag der Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation Germanwatch und von »Ärzte gegen Massentierhaltung«. Der Stichprobentest umfasste 165 Hähnchenfleischproben der drei Konzerne, gekauft in Deutschland, Frankreich, Polen, den Niederlanden und Spanien.
Die höchste Kontaminationsrate wiesen die Proben des Geflügelkonzerns PHW auf: Bei 59 Prozent der Hähnchenfleischproben wurden antibiotikaresistente Krankheitserreger gefunden. Damit waren die gefundenen Resistenzraten noch höher als bei jüngsten Hähnchenfleischuntersuchungen deutscher Behörden, bei denen rund die Hälfte der Proben kontaminiert war. Zum Konzern PHW gehören unter anderem die Marken Wiesenhof und Drobimex (Polen). Jede vierte PHW-Probe schleppt MRSA in die Lebensmittelkette ein. Dabei weist jede dritte Hähnchenfleischprobe des PHW-Konzerns (Stammsitz in Deutschland) Resistenzen gegen Reserveantibiotika auf. Diese sollten laut Weltgesundheitsorganisation WHO für Menschen vorbehalten sein, da sie im Notfall benötigt werden, wenn herkömmliche Antibiotika bereits nicht mehr wirken. Die EU-Kommission will in diesen Wochen entscheiden, ob diese Notfall-Antibiotika mit höchster Priorität für Menschen weiter in der Massentierhaltung eingesetzt werden dürfen.
Hähnchenfleisch der französischen LDC-Gruppe erweist sich mit 57 Prozent kontaminierter Proben als kaum weniger belastet als PHW-Fleisch. Zur LDC-Gruppe gehören die Marken Le Gaulois und Maitre Coq. Der größte EU-Geflügelkonzern LDC liefert mit einer Belastungsrate von 45 Prozent Probenanteil mit Reserveantibiotika-Resistenzen einen starken Beleg für die Notwendigkeit des EU-weiten Verbots dieser für Menschen wichtigsten Antibiotika in der industriellen Tierhaltung.
Bei Fleisch des Geflügelkonzerns Plukon (Niederlande) birgt gut jede dritte Hähnchenprobe Antibiotikaresistenzen (36 Prozent), jede vierte Hähnchenprobe auch gegen Reserveantibiotika. Plukon-Fleisch weist im vorliegenden Vergleich die höchste Rate an ESBL-produzierenden Krankheitserregern auf, wodurch besonders erkrankte, ältere Menschen und Kleinstkinder gefährdet werden können. Zum Plukon-Konzern gehören die Marken Stolle und Friki.
In Europa sterben jährlich 33.000 Menschen, weil Antibiotika nicht mehr wirken. Tierärzte in der EU verbrauchen mehr Antibiotika für Tiere als die Humanmedizin für kranke Menschen. Der massive Antibiotikaeinsatz insbesondere in der industriellen Tierhaltung ist neben der Ansteckung in Krankenhäusern und nicht fachgerechter Anwendung von Antibiotika einer der Hauptgründe für die Zunahme der Resistenzen. Aufgenommen werden können antibiotikaresistente Krankheitserreger zum Beispiel bei der Fleischzubereitung, wenn resistente Erreger etwa beim Fleischschneiden auf Küchenutensilien oder Rohkost gelangen.
Reinhild Benning, Expertin für Tierhaltung bei Germanwatch: »Die hohen Resistenzraten - besonders gegen Reserveantibiotika – haben uns überrascht und schockiert. Antibiotikaresistenzen sind ein enormes Gesundheitsrisiko für Menschen. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie benötigen Covid-Patientinnen und -Patienten oft wegen bakterieller Begleiterkrankungen wirksame Antibiotika. Kontaminiertes Geflügelfleisch aus industrieller Massentierhaltung kann dazu beitragen, dass sogar die letzten wirksamen Antibiotika immer häufiger versagen. Brüssel hat der Fleischindustrie schon zu viele Extrawürste genehmigt. Jetzt muss sie der Rettung von Menschenleben Priorität geben vor der industriellen Billigfleischproduktion. Notfall-Antibiotika in Tierfabriken müssen verboten werden.«
Prof. Dr. Sören Gatermann, Leiter der Untersuchung im Nationalen Referenzzentrum für gramnegative Krankenhauserreger (Bochum): »Die hohe Rate an Proben mit Fluorochinolonresistenz und die Nachweise von MRSA haben überrascht. Schließlich sind Chinolone wichtige Antibiotika für die Therapie auch schwerer Infektionen beim Menschen.«
Dr. Imke Lührs, Vorstand von »Ärzte gegen Massentierhaltung«: »Die EU-Kommission kann und muss die von der Weltgesundheitsorganisation WHO definierten Antibiotika mit höchster Priorität für Menschen vorbehalten. Andernfalls wäre sie mitverantwortlich, wenn noch mehr schwerkranke Patienten an Infektionen mit resistenten Keimen versterben. Wir Ärzte sind auf die Reserveantibiotika in vielen Gebieten der modernen Medizin angewiesen, so in der Tumortherapie, bei Transplantationen, bei Frühgeborenen, großen Operationen und schweren Unfällen. Dass Reserveantibiotika dazu dienen, das System der industriellen Tierhaltung möglich zu machen, ist unerträglich. Wir brauchen wirksame Tierschutzgesetze und ein Verbot der Reserveantibiotika im Stall.«
Während der Antibiotikaverbrauch bei Tierärzten in einigen EU-Ländern wie Deutschland laut EU-Behörden sinkt, gehen die Resistenzraten nicht einheitlich zurück. Laut Bundeslandwirtschaftsministerium sank der Antibiotikaverbrauch bei Masthähnchen in Deutschland von 2014 bis 2017 ohnehin nur um gerade einmal 0,9 Prozent. Hohe Resistenzraten gelten als Indiz, dass die Tiere und damit ihre Keimflora kontinuierlich mit Antibiotika konfrontiert werden.
Germanwatch und „Ärzte gegen Massentierhaltung“ fordern von der EU-Kommission den gefährlichen Einsatz von Reserveantibiotika in der Tierhaltung zu verbieten. Verbraucherinnen und Verbrauchern rät Germanwatch: Wenn sie Geflügelfleisch kaufen wollen, dann am besten aus ökologischer Erzeugung oder aus Hofschlachtung.
Zur Studie: Im Nationalen Referenzzentrum für gramnegative Krankenhauserreger (Bochum) wurden insgesamt 165 Hähnchenfleischproben untersucht. Sie stammen von den drei größten Geflügelkonzernen in der EU: Der französischen LDC-Gruppe, PHW (Deutschland) und dem niederländischen Plukon-Konzern. Die Proben wurden in Filialen von Lidl und Aldi in Polen, Deutschland, Frankreich und Spanien oder direkt bei den relevanten Schlachthöfen in Deutschland und den Niederlanden gekauft.