Aus einem Überraschungspaket wird ein neues Outfit
Bielefeld (fhb). Die Stadtbahn der Linie 4 bahnt sich leicht ruckelnd ihren unterirdischen Weg durch den Bielefelder Westen. Nächster Halt: Rudolf-Oetker-Halle. Etwas nervös verlässt Jennifer Stellwag die Bahn und orientiert sich. Schnell findet sie den richtigen Ausgang, der sie zum Fachbereich Gestaltung führt. Seit November 2020 studiert sie Mode an der Fachhochschule (FH) Bielefeld – fast ausschließlich online. An diesem kalten Novembermorgen darf sie endlich zum ersten Mal ihren Fachbereich betreten, wenn auch nur sehr kurz und unter strengen Hygienebedingungen. Ihr Ziel: Sie holt eine Überraschungstüte ab, aus deren Inhalt sie einen ersten eigenen Entwurf gestaltet. Sofort schaut sie in ihre »Wundertüte«: Ein knallbuntes T-Shirt mit Superhelden-Comics sticht heraus, außerdem findet sie einen Fahrradhelm, schwarze Turnschuhe und ein Bündel Nähmaterial mit Sicherheitsnadeln und Druckknöpfen. »Endlich kann ich kreativ werden«, freut sich Stellwag.
Restart – ein Mode-Upcycling-Projekt zu Coronazeiten
Philipp Rupp, Professor für Kollektionsgestaltung und Modedesign am Fachbereich Gestaltung der FH Bielefeld, hatte die Idee mit dem Überraschungspaket: »Da das Studium coronabedingt online läuft, habe ich überlegt, wie trotzdem eine kreative Aufgabenstellung für die beginnenden Erstsemester aussehen könnte. Denn Mode auf Distanz zu studieren, ohne die Haptik der Stoffe zu spüren oder Volumen am Körper auszuprobieren – das ist eigentlich kaum möglich.« Deshalb hat er für alle Erstsemester, die am Modul »Grundlagen der Kollektionsgestaltung" teilnehmen, die Überraschungstüten mit getragenen Kleidungsstücken sowie textilen und nichttextilen Materialien gepackt. Rupp: »Die Fragestellung war: Was benötigt es, um aus den vorgefundenen Elementen ein neues Upcycling-Outfit herzustellen? Wie erschafft man zum Beispiel aus einer alten Regenjacke ein modisches Abendkleid? Oder womit erreicht man einen sportiven Look? Welche Techniken können eingesetzt werden?« Dem Projekt hat Rupp den Namen »Restart« gegeben, zusammengesetzt aus Recycling und Start, wie er erläutert: »Zum einen ist es der Start für die Erstsemester, zum anderen erleben auch die Kleidungsstücke einen Neustart.« Die Studierenden sollten nun experimentieren, wie Kleidung den Körper gestalten kann. Spielerisch und unbefangen konnten sie die Kleidungsstücke als Werkstoff benutzen und knoten, bemalen, zerschneiden oder umkrempeln und neu zusammenfügen. Das Tauschen untereinander und das Einbringen weiterer gebrauchter Kleidungsstücke waren erlaubt – der Tausch wurde via Zoom verabredet.
Das Outfit als Reise in die glückliche Kindheit
Jennifer Stellwag hatte schnell eine Vorstellung, wie sie die Aufgabe umsetzen wollte: „Nach dem Auspacken sollten wir uns ein Bedürfnis aussuchen, das unser Outfit decken soll. Mir war sofort klar, dass mein Outfit Spaß machen und Freude vermitteln soll. Außerdem sollte es in die eigene, unbeschwerte Kindheit zurückversetzen. Für die Recherche habe ich mir ein paar Leitfragen gestellt: Was macht Spaß? Was vermittelt Freude? Was hat mich in der Kindheit glücklich gemacht? Wie verbinde ich dies mit meinem Outfit?“ Daraufhin habe sie für sich entschieden, dass bunte, knallige Farben Freude vermitteln, Formen und Muster Spaß machen und verspielte Schnitte und Volumen lustig und zugleich kindlich wirken können. »Ein weiterer wichtiger Aspekt meines Outfits war Spielzeug als Symbol für Kindheit«, ergänzt die Studentin. »Um meine Vision umzusetzen, habe ich weitere Second-Hand-Sachen ausgeliehen und einige Teile aus der Tüte mit meinen Kommilitonen getauscht.« So kam sie unter anderem zu einem großen Teddybären und »Pfotenhandschuhen«. Der nächste Schritt: Skizzen und Studien mit den verschiedenen Materialien. »Mein Freund und meine Mutter haben als Models hergehalten, um verschiedene Ideen auszuprobieren: Zum Beispiel um einen Stoffhund als Hose, einen Helm als Schulterpolster oder eine Jacke als Rock umzufunktionieren. Nach einigen Versuchen wurde mir klar, was am besten zu meiner Vision passte. Der Teddy musste mit ins Outfit. Dann konnte ich beginnen zu nähen, zu kleben, auszustoßen und zu sticken.« Ein weiteres Mal durfte Jennifer Stellwag in die FH, um ihren Entwurf an einer Puppe zu zeigen. Diesmal in einer Dreiergruppe im weitläufigen Foyer unter strengen Anstandsregeln.
Ausdrucksstarke Inszenierung der Entwürfe
Nach der Erstellung des eigenen Outfits ging es für die 16 Modestudierenden, die an dem Modul teilnahmen, weiter mit der Frage, wie die entstandenen Entwürfe ausdrucksstark inszeniert und dokumentiert werden. Dabei kam ihnen entgegen, dass man am Fachbereich Gestaltung auch die Studienrichtung Fotografie wählen kann. Ein Fotograf war also schnell gefunden, ebenso ein Model aus der fachbereichseigenen Kartei. So konnten die Outfits an den vorher ausgewählten Locations professionell abgelichtet werden. »Auch das gehört dazu und erfordert genaue Planung und Abstimmung«, erklärt Philipp Rupp. »Die Studierenden haben ihre Entwürfe für das Shooting an das Model geschickt mit Notizen, wie und wo sie ihre Outfits fotografiert haben möchten, inklusive Requisiten für die perfekte Inszenierung. Beim Shooting selbst waren aus Hygieneschutzgründen nur der Fotograf und das Model anwesend«, ergänzt der Professor. Jennifer Stellwag hatte die Story für die Inszenierung ihres Outfits schnell beisammen: »Stell dir vor, du bist noch ein Kind und deine Eltern sind für kurze Zeit nicht im Haus. Endlich darfst du machen, was du willst. Erstes Ziel: das Bett. Die Matratze wird zu deiner Bühne, auf der du Gitarre spielst, singst und zum Rockstar wirst, es wird zum Trampolin, auf dem du deinem Publikum tolle Tricks präsentierst, aber auch zu deinem Rückzugsort, an dem du so bist wie du bist und dich einfach nicht zu ernst nimmst.« Die Übung mit der Überraschungstüte hat ihr jedenfalls sehr gut gefallen. »Ich bin trotz Online-Studiums allgemein sehr zufrieden mit dem Studium und der Betreuung. Die Lehrenden sind immer hilfsbereit, ermutigen uns sehr und geben uns super Tipps, sodass wir schnell Fortschritte in uns erkennen können. Alle sind sehr offen und herzlich. Und das Projekt ›Restart‹ hat mir noch einen zusätzlichen Motivationsschub gegeben.«