Bielefeld (FHB). Eine kleine braune Holzkiste, nicht viel größer als eine Streichholzschachtel, rollt über ein Förderband mit vielen Windungen. Auf ihrer Fahrt wird sie gedreht, hochgehoben und umgesetzt. Sie passiert ein Lesegerät und fährt surrend weiter. Plötzlich ein Stopp: Eine kleine gelbe Kugel kullert in die Box. So beladen geht es weiter zu einem Hochregal im Spielzeugformat. Ein Regalbedienroboter greift die Kiste und schiebt sie präzise an eine freie Stelle. Hier endet die Reise, die so oder so ähnlich tagtäglich in modernen Logistikzentren und Produktionshallen überall auf der Welt stattfindet – nur eben nicht wie hier en miniature. Wie eine komplexe Modelleisenbahn Die Modellfabrik des Automatisierungs- und Regelungstechniklabor des Fachbereichs Ingenieurwissenschaften und Mathematik an der Fachhochschule (FH) Bielefeld erinnert ein wenig an eine komplexe Modelleisenbahn. Die kleine Fabrik besteht aus dem Hochregallager, einer Bearbeitungsstation, einem Umsetzer, einer sogenannten Palettenidentifikationslinie sowie einer Bestückungslinie. Mit diesem Modell können Studierende experimentieren und die Programmiertätigkeiten lernen, die für ein perfekt funktionierendes Lager nach heutigen Standards ausgeführt werden müssen. Sie simulieren genau die Abläufe, die sie bei ihren zukünftigen Arbeitgebern wiederfinden können. Betreut und eingesetzt wird die Modellfabrik von Prof. Dr.-Ing. Martin Kohlhase, Professor für Regelungs- und Automatisierungstechnik an der FH Bielefeld, und seinem Kollegen Prof. Dr.-Ing. Dirk Weidemann. Zuvor war Kohlhase viele Jahre in Unternehmen aktiv und hat für die Claas Selbstfahrende Erntemaschinen GmbH in Harsewinkel gearbeitet. Ein enormer Vorteil findet er, denn so kann der Hochschullehrer seine dort gesammelten Erfahrungen direkt in seine Vorlesungen einfließen lassen. Außerdem integriert er immer wieder Anwendungsfälle aus seiner beruflichen Vergangenheit in seine Seminaraufgaben, was die Studierenden motiviert und die Praxisorientierung des Fachhochschulstudiums unterstreicht. Aha-Effekt gibt Schub fürs Studium Prof. Kohlhase ist Hochschullehrer geworden, weil er gerne junge Leute auf ihrem Berufsweg begleitet und ihnen das richtige Werkzeug für ihre Zukunft an die Hand geben will. »Hier im Labor können die Studierenden erleben, was eine Umsetzung der Methoden an realen Anlagen bedeutet, welche Möglichkeiten es gibt und wo die Schwierigkeiten liegen. Es ist immer wieder schön mitzuerleben, wenn bei den Studierenden dann der sogenannte Aha-Effekt eintritt und die Motivation fürs Studium dann einen echten Schub bekommt.« Die Arbeiten mit den Exponaten des Labors – neben der Modellfabrik gibt es ein inverses Pendel und einen sogenannten Dreitank – veranschaulichen den Studierenden die theoretischen Teile des Studiums auf plakative Weise. Gleichzeitig, so berichtet der Professor, sind sie fasziniert davon wie die entwickelten Algorithmen die Prozesse ganz konkret in Bewegung setzen. Industrie 4.0 abgebildet im Labor Die Regelungs- und Automatisierungstechnik spielt aktuell in der Wirtschaft in zweierlei Hinsicht eine zentrale Rolle: zum einen im Kontext der vierten industriellen Revolution, die unter dem Schlagwort Industrie 4.0 geführt wird und künftig ganz neue Möglichkeiten des Produzierens und Wirtschaftens ermöglichen wird. Zum anderen geht es auch um das Streben nach Nachhaltigkeit. Kohlhase: »Nur, wenn Prozesse bei den Unternehmen automatisiert und damit optimiert werden, können diese dauerhaft effizient und ressourcenschonend betrieben werden.« Mit Prozessmodellen, Simulationen und Regelungsalgorithmen wird all dies möglich, sodass eine komplette Vernetzung und Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette erzielt werden kann. »Dabei wachsen Automatisierungstechnik und IT immer mehr zusammen«, so Kohlhase. Individualisierung und Variantenvielfalt effizient managen Ohne eine smarte Automatisierungstechnik aus der Hand von gut ausgebildeten Fachkräften, die beispielsweise an der FH studiert haben, ist auch eine Individualisierung von Produkten kaum denkbar, berichtet der Professor weiter. »Konsumenten wünschen sich heute zunehmend solche Produkte, die in zahlreichen Varianten verfügbar sein müssen, oft sogar mehr oder weniger maßgeschneidert sind und am besten noch am nächsten Tag geliefert werden.« Auch zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen leistet die Automatisierungstechnik ihren Beitrag, denn sie dient dazu, den Menschen zu unterstützen – eine Erkenntnis, welche Prof. Kohlhase den Studierenden im Labor gleichsam en passant vermittelt. Er berichtet beispielsweise von den Ergebnissen der Arbeit des Kompetenzzentrums »Künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt des industriellen Mittelstands« (KIAM), das im Oktober 2020 im Rahmen des Spitzenclusters »it’s OWL« gestartet worden ist. KI im Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen Hier geht es etwa um die Fragen: Wie wird Künstliche Intelligenz (KI) die Arbeitswelt verändern? Welche neuen Technologien können Unternehmen einsetzen, um ihre Beschäftigten zu entlasten und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern? In einem Leuchtturmprojekt wird beispielsweise versucht, mit KI und einer intelligenten Automatisierung Belastungen der Belegschaft in der Produktion zu reduzieren, indem bereits in der Arbeitsvorbereitung und -planung die richtigen Entscheidungen getroffen werden. »Diese ganz neuen Herausforderungen und Möglichkeiten der Industrie stellen den erweiterten Kontext unserer Arbeit mit den Studierenden im Automatisierungs- und Regelungstechniklabor der FH Bielefeld dar«, so Prof. Kohlhase. Cloud-basierte Workflows entwickeln Damit die Studierenden hier mitreden können, werden streng anwendungsorientiert die Grundlagen der Regelungstechnik, der cloud-basierten Automatisierung und der datenbasierten Modellbildung vermittelt und beforscht. An den Exponaten können Studierende und Forschende die zuvor am Rechner simulierten Algorithmen in einer realen Umgebung testen, bevor sie dann beispielsweise bei Industriepartnern zum Einsatz kommen. Denn die Modellfabrik und ihre Anbindung an eine Cloud dient unter anderem dazu, Workflows zu gestalten und zu untersuchen, die dann später tatsächlich in wirkliche Ökosysteme überführt werden können. Dreitanksystem und inverses Pendel Die weiteren Exponate des Labors, in dem die Modellfabrik steht, dienen ebenfalls als Datenquelle, um digitale Abbilder von Prozessen zu erzeugen. Bei diesen sogenannten Digitalen Zwillingen können die Prozesse dann am Rechner verändert und so kostengünstig verbessert werden. Das Dreitanksystem beispielsweise besteht aus drei über Ventile verbundene Tanks. Über eine Pumpe kann das System mit Wasser befüllt werden. An dem nichtlinearen System können die Studierenden verschiedene regelungstechnische Konzepte erproben. Ein weiteres Exponat ist das inverse Pendel. Es arbeitet wie eine Person, die einen Besenstiel auf der Handoberfläche balanciert. Das Pendel besteht aus einem zentralem Motor, der einen Schwenkarm auf einer Kreisbahn rotieren lassen kann. An diesem Arm ist ein Stab, das sogenannte Pendel, gelagert, das nur durch einen Sensor in seiner Position erfasst wird. Der Motor ermöglicht es, mit Hilfe dieses Arms das Pendel in die instabile Ruhelage zu überführen und dort zu halten. Werden dem Pendel Störungen zugeführt, versucht der Arm, das Pendel trotzdem in der senkrechten Position zu halten. Kreative Köpfe für die Wirtschaft in Ostwestfalen-Lippe Das Automatisierungs- und Regelungstechniklabor bietet ein Aktivitätsfeld für Studierende wie Lehrende. Prof. Dr. Kohlhase erklärt, dass eigene Forschung der Hochschulen für den Standort OWL und auch für Deutschland insgesamt essentiell wichtig sei, um einerseits wettbewerbsfähig zu bleiben und andererseits Nachwuchs auszubilden, der im internationalen Vergleich mithalten kann und mit eigenen Ideen innovative Produkte von morgen gestaltet. »Nur mit kreativen Köpfen ist Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit möglich«, ist Kohlhase überzeugt. Positive Wechselwirkungen zwischen der Fachhochschule und ihren lokalen Partnern aus der Wirtschaft tragen diese Entwicklung und beflügeln den Wissenstransfer. Kohlhase: »Wir forschen mit den Partnern, die Studierenden bekommen Teile dieser Forschung mit und sehen wie die Methoden in die Industrie transferiert werden können. Somit haben sie relativ schnell eine realistische Vorstellung der Anforderungen des Berufslebens und können schneller Fuß zu fassen.« Sehr gute Berufsaussichten Tatsächlich haben Studierende, die den Schwerpunkt Automatisierungs- und Regelungstechnik wählen, zahlreiche Möglichkeiten. Sie können in unterschiedlichen Branchen arbeiten, da in fast allen Industrien Automatisierungstechnik und Regelungstechnik zum Einsatz kommt. Tätigkeitsschwerpunkte von Automatisierungstechnik-Ingenieuren sind Softwareerstellung, Hardwareprojektierung, Inbetriebnahme von Maschinen und fertigungstechnischen Anlagen sowie die Entwicklung von verfahrenstechnischen Prozessen. Hauptaufgaben im Bereich der Regelungstechnik sind wiederum die Modellierung und die Simulation von Prozessen. Zudem spielt dort die Erstellung von Algorithmen eine zentrale Rolle. »Wirklich faszinierende Aktivitätsfelder, in denen man im wahrsten Sinne des Wortes etwas bewegen kann«, so die Einschätzung von Martin Kohlhase.