Menschen, die sich auf die Lösung eines Problems eingeschossen haben, reagieren meist sehr ungehalten, wenn sich herausstellt, dass das Problem gar nicht zu ihrer Lösung passt.

Natürlich sind sie in ihre mühsam erarbeitete Lösung verliebt, und deshalb sind sie nicht bereit, die Lösung über den Haufen zu werfen und noch einmal neu nachzudenken.

Stattdessen reagieren sie üblicherweise damit, das bestehende Problem dahingehend umzuformulieren, dass es zwar nichts mehr mit der Realität zu tun hat, aber immerhin wieder zu ihrer Lösung passt. In der Sozialpsychologie bezeichnet man dieses Phänomen als »Kognitive Dissonanz«.

Kognitive Dissonanz

Eine »Kognitive Dissonanz« ist ein als unangenehm empfundener Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat, wie Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten. Kognitionen sind mentale Ereignisse, die mit einer Bewertung verbunden sind. Zwischen diesen Kognitionen können Konflikte (»Dissonanzen«) entstehen.

Leon Festinger subsumiert einzelne Wahrnehmungen, Informationen, Bedürfnisse, Vermutungen, Meinungen und so weiter unter der Kategorie »Kognitive Elemente« (Festinger 1978). Diese sind die Grundbausteine, aus denen sich die menschlichen Gedächtnisinhalte zusammensetzen. Wenn zwei kognitive Elemente zueinander im Widerspruch stehen, sodass das eine in gewisser Hinsicht das Gegenteil des anderen ausdrückt, entsteht Dissonanz. Ein konsonanter Zustand besteht hingegen, wenn keine Gegensätze vorliegen. Dissonante Zustände werden als unangenehm empfunden und erzeugen innere Spannungen, die nach Überwindung drängen. Der Mensch befindet sich im Ungleichgewicht und ist bestrebt, wieder einen konsistenten Zustand – ein Gleichgewicht – herzustellen, sei es bewusst oder unbewusst.

Beispiele

Konsequenzen von Taten

Je nachdem, ob Mitmenschen freundlich oder unfreundlich behandelt werden, ändert sich die Einstellung zu ihnen. Wenn wir jemandem nicht helfen oder sogar schaden, wird das Opfer von uns abgewertet. Eine freundliche Handlung macht unsere Einstellung freundlicher, was weitere freundliche Handlungen wahrscheinlicher macht; für unfreundliche Handlungen gilt dasselbe: Ein Rückkopplungsprozess wird in Gang gesetzt.

Benjamin-Franklin-Effekt

Wenn wir jemanden erfolgreich bitten, uns einen Gefallen zu tun, werden wir ihm dadurch sympathischer. Diesen Effekt nannte bereits Benjamin Franklin eine »alte Maxime«. Wenn wir jemandem helfen, wird uns der Hilfeempfänger sympathischer. Franklins Vermutung wurde wissenschaftlich bestätigt (Jecker & Landy, 1969): Nachdem die Versuchspersonen in einem Scheinexperiment einen ansehnlichen Geldbetrag gewonnen hatten, wurde ein Drittel von ihnen um Rückgabe des Geldes gebeten, wobei der Versuchsleiter sagte, sie täten ihm damit einen persönlichen Gefallen. Ein Drittel der Gruppe wurde von einer Sekretärin gefragt, ob sie das Geld dem Forschungsetat des Instituts spenden wollten. Das letzte Drittel, die Kontrollgruppe, wurde nicht um Rückgabe gebeten. Anschließend bewerteten alle Versuchspersonen den Versuchsleiter, wobei er bei der ersten Gruppe signifikant besser abschnitt als bei den beiden anderen.

Opfer-Abwertung

Dass wehrlose Opfer von Tätern stark abgewertet werden, ist ein universelles Phänomen, das mit Dissonanzreduktion erklärbar ist. Beispiele dafür sind Opfer des Holocausts (»Untermenschen«), zivile Kriegsopfer (»Polacken, Froschfresser, Inselaffen«), Opfer häuslicher Gewalt (»Schlampen, Blagen, Schlappschwänze«), Opfer von Rassismus (»Kanaken«), Opfer von Diskriminierung aus Tradition (»Es sind doch nur Sklaven oder Frauen«). Diese Abwertungen treten nicht auf, wenn die Opfer die Gelegenheit bekommen, eine Kompensation zu bekommen (Gerechtigkeit herzustellen). Vergewaltigungsopfer werden oft abgewertet, indem nach Schein-Rechtfertigungen in ihrem Verhalten oder Erscheinungsbild gesucht wird.

»Fleisch-Paradoxon«

Das »Fleisch-Paradoxon« ist ein zentrales Merkmal für die Spannung zwischen dem Wunsch der meisten Menschen, Tieren nicht zu schaden, und der Entscheidung für eine Ernährungsweise, die Tieren Schaden zufügt. Psychologen gehen davon aus, dass dieser Konflikt zwischen Wertvorstellungen und Verhalten zu kognitiver Dissonanz führt, die Fleischesser auf verschiedene Weisen versuchen abzuschwächen. So stellten etwa Bastian Brock und andere fest, dass Fleischesser sich die Praxis des Fleischessens erleichtern, indem sie den Tieren, die sie essen, nur im geringen Maß Intelligenz, emotionales Erleben und einen moralischen Wert zusprechen. Psychologen glauben, dass Fleischesser die Kognitive Dissonanz reduzieren, indem sie ihre Wahrnehmung von Tieren als bewusste, schmerzempfindliche und leidensfähige Lebewesen minimieren, vor allem bezüglich der Tiere, die sie als Nahrungsmittel betrachten. Das ist eine psychologisch wirksame Strategie, denn Organismen, denen ein geringeres Schmerzempfinden zugeschrieben wird, gelten demzufolge auch als moralisch weniger schützenswert und ihre Nutzung als Nahrungsmittel wird stärker akzeptiert.

Weitere Beispiele

  • In Äsops Fabel »Der Fuchs und die Trauben« möchte der Fuchs Trauben fressen, ist jedoch unfähig, sie zu erreichen. Statt sich sein Versagen einzugestehen, wertet er die Trauben als »zu sauer und nicht der Mühe wert« ab.
     
  • Nachdem die Wette platziert ist, rechnen Wettende mit höheren Gewinnchancen als vor dem Bezahlen (Knox und Inkster, 1968).
     
  • Corey (1937) fand eine große Diskrepanz zwischen Überzeugung und Verhalten bei der Frage des Schummelns bei Prüfungen. Es gab keine Korrelation zwischen der Stärke, mit der seine Versuchspersonen das Schummeln verurteilten, und ihrem tatsächlichen Schummelverhalten.
     
  • Dieselbe Tätigkeit wird positiver bewertet, wenn sie auf Aufforderung eines unfreundlichen Menschen geschieht, als wenn sie einem freundlichen Menschen zuliebe getan wird (Zimbardo und andere, 1965). Im ersten Fall fehlt die externe Rechtfertigung: »Ich tue es, aber nicht der unfreundlichen Person zuliebe, also muss die Tätigkeit attraktiv sein«.
     
  • Die kognitive Dissonanz, die bei Ablehnung einer Bewerbung empfunden wird, sei es beim Flirten oder auf Jobsuche, kann durch Abwertung des Ablehnenden gemildert werden.
     
  • Die kognitive Dissonanz, die durch das Erkennen einer besonderen Leistung gegenüber der Einstellung zu einer Person empfunden wird, wird dadurch gemildert, dass die Leistung als solche abgewertet und zu nichts Besonderem erklärt wird.
  • Jemandem ist die Umwelt wichtig, trotzdem fährt er mit dem Auto zur Arbeit.

  • Man hat nicht viel Geld, kauft sich aber trotzdem das neue Smartphone.

  • Die Gesundheit ist einem wichtig, trotzdem raucht man täglich Zigaretten.

In diesen und vielen anderen Fällen, kommt man nicht leicht aus der Zwickmühle heraus. Das Gehirn kommt mit solchen Spannungszuständen leider nicht gut zurecht. Dann fängt es an, das Problem auf eigene Faust zu lösen.

Das Auflösen der Kognitiven Dissonanz

Grundsätzlich stehen einem selbst beziehungsweise dem Gehirn verschiedene Strategien zur Verfügung, mit Kognitiven Dissonanzen umzugehen.

  • Die Verhaltensänderung wäre in den meisten Fällen die vernünftigste Variante, sie ist aber gleichzeitig die unwahrscheinlichste Wahl. Das würde beispielsweise bedeuten, konsequent mit dem Fahrrad oder dem Bus zur Arbeit zu fahren, das alte Smartphone weiterzubenutzen oder mit dem Rauchen aufzuhören.
     
  • Das Abwerten der Alternative: »Klarer Fall – mit dem Auto fahre ich fünf Minuten, mit dem Bus eine halbe Stunde. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Das alte Handy ist sowieso zu langsam. Und Opa, der immer geraucht hat, ist schließlich auch 95 geworden. Es gehört auch Pech dazu, Krebs kriegen.«
     
  • Weitere Überlegungen werden als Rechtfertigung hinzugenommen. »Ob ich die zehn Minuten pro Tag mit dem Auto fahre oder nicht, macht den Kohl nicht fett. Und so teuer war das Handy jetzt auch nicht. Ist schnell abbezahlt, sind nur 217 Monatsraten. Klar, ist Rauchen nicht gesund. Aber wenn’s danach ginge dürfte ich mich nicht mehr atmend auf die Straße stellen.«
     
  • Daneben gibt es weitere Strategien wie die Verleugnung der vorhandenen Dissonanz, Ablenkung beispielsweise mit Fernsehen, Medienkonsum, Sport oder Drogen wie Alkohol und anderen Dingen.
     
  • Dritte für das Problem verantwortlich machen, Nichtwahrnehmen, Leugnen, Verdrängen et cetera …