Bielefeld (fhb). Fast eine halbe Tonne Abfall wurden in Deutschland 2019 durchschnittlich pro Kopf produziert. Knapp ein Drittel davon zählt zu den Wertstoffen. Das sind etwa Verpackungen aus Plastik oder Papier, die recycelt werden können. Doch nicht alle Abfallprodukte bestehen ausschließlich aus einem einzigen Wertstoff. Damit solche Verbundstoffe nicht unrecycelt verbrannt werden oder auf der Mülldeponie landen, müssen eigene Verfahren entwickelt werden, um die Materialien voneinander zu trennen.
 
Genau diesen Ansatz haben Studierende aus dem Modul »Zirkuläre Wertschöpfung nach Cradle-to-Cradle« am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik (IuM) der Fachhochschule (FH) Bielefeld verfolgt. In Kooperation mit dem Bielefelder Unternehmen »IP Adelt« hat ein sechsköpfiges Team sowohl einen nachhaltigen Aktenordner als auch ein Verfahren zum Recycling entwickelt.
 
Cradle to Cradle
 
»Cradle to Cradle«, zu Deutsch »von der Wiege zur Wiege« drückt das Prinzip der zirkulären Wertschöpfung aus: Entgegengesetzt zur Redewendung »Von der Wiege bis zur Bahre« können die Rohstoffe und Materialien eines Produkts oder auch eines Gebäudes dabei immer wieder neu genutzt oder als biologische Nährstoffe in biologische Kreisläufe zurückgeführt werden – eben von Wiege zu Wiege statt am Ende ihrer Nutzung auf der Bahre, also auf dem Müll zu landen.
 
Gründung eines fiktiven Startups
 
»Ziel des Moduls ist es, dass die Studenten ein fiktives Startup nach den Prinzipien der Cradle-to-Cradle-Denkschule gründen«, sagt Prof. Dr. Eva-Schwenzfeier-Hellkamp, die gemeinsam mit Fabian Schoden das Modul betreut. Die Studierenden entwickeln Lösungen für reale Probleme – immer mit Blick auf die Ressourcenknappheit.
 
Beispiel für Cradle-to-Cradle: die Venloer Stadtverwaltung
 
»Bei dem Prinzip der zirkulären Wertschöpfung nach Cradle to Cradle geht es nicht darum, auf Errungenschaften der Neuzeit zu verzichten«, betont Schoden, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich IuM promoviert. »Viele technische Raffinessen lassen sich meist aus der Natur ableiten und an die Bedürfnisse des Menschen anpassen. So können wir erreichen, im Einklang mit der natürlichen Umwelt zu leben. Großprojekte wie das Bürgerbüro der niederländischen Gemeinde Venlo sind bekannte Beispiele für die praktische Umsetzung von zirkulärer Wertschöpfung.« Die Stadtverwaltung in Venlo hat das Gebäude aus schadstofffreien und recycelbaren Materialien errichten lassen und setzt auf eine besondere Gebäudeinfrastruktur: Sie ist energie- und wasserautark. 
 
In der begleitenden Vorlesung zur zirkulären Wertschöpfung geben Schwenzfeier-Hellkamp und Schoden den Studierenden Hintergrundwissen zu biologischen und technischen Kreislaufprozessen. Im Seminar erfolgt dann die eigene kreative Arbeit der Studenten.
 
Kooperation mit Bielefelder Unternehmen

»Wir hatten bereits vor dem Start des Moduls im Wintersemester 2020/2021 Kontakt mit der Firma ›IP Adelt‹ aufgenommen, der über die Effizienz-Agentur Nordrhein-Westfalen zustande gekommen war«, berichtet Schoden. »IP Adelt« entwirft und produziert Präsentations- und Werbemittel. »Das Unternehmen war sehr offen, was ein mögliches Projekt angeht, so hatten die Studenten viele Freiheiten«, so Schoden.
 
Genau das schätzten auch die sechs Mitglieder der Arbeitsgruppe. »Eric Adelt hat sich zu Beginn viel Zeit genommen, um unserem Team einen möglichst genauen Einblick in die Produkte und den Produktionsvorgang zu bieten«, sagt Elise Diestelhorst. Die Bachelor-Studentin steht kurz vor ihrem Abschluss des Bachelorstudiengangs Regenerative Energien.
 
Komplett recycelbarer Ordner
 
Der »Ordanic« – eine Kombination aus den Worten »Ordner« und »organic« – ist so gestaltet, dass Deckel und Rückseite aus purem Zellstoff bestehen und damit komplett recycelt werden können. Anders als bei klassischen Ordnern wurde auf ein Bedrucken des Ordners genauso verzichtet wie auf eine Schutzbeschichtung aus Kunststofffolie. Stattdessen wird das Logo oder eine andere Beschriftung eingeprägt.
 
Im letzten Schritt der Produktion wird die ausgebaute Mechanik eines alten Ordners im Ökoordner verbaut – das spart Rohstoffe und Energie für eine komplett neu produzierte Mechanik. Die Firma ruft aktiv dazu auf, alte Ordner zu spenden. Denn bei Aktenordnern kommt es oft vor, dass die Ringmechanik viel länger hält als der Ordner selbst.
 
Produkte neu denken, damit sie wirklich nachhaltig werden
 
Nicht nur das nachhaltige Produkt und die Produktion konzipierten die Studierenden. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer drehten sie auch eigenständig einen Informationsfilm, der das Projekt vorstellt.
 
Die Studierenden haben bei dem Projekt so neben dem selbstständigen Arbeiten auch viel für ihr weiteres Studium und späteres Berufsleben gelernt. »Produkte können nicht immer mit minimalen Verbesserungen nachhaltig werden. Für einen signifikanten Unterschied muss manchmal das Bestehende verworfen und das Projekt neu gedacht werden«, ist sich die Studentin Elise Diestelhorst nun nach dem Kurs bewusst. »Alle zugehörigen Materialien und Bestandteile müssen auf ihre Integration in den biologischen sowie technischen Kreislauf geprüft werden, um Produkte im Einklang mit der Natur anzufertigen.«
 
Modul »Zirkuläre Wertschöpfung nach Cradle-to-Cradle« als Besonderheit
 
Die Kooperation mit einem externen Kooperationspartner fand in der Form erstmals so statt und kam bei den Studierenden gut an. »Mich hat die Vorstellung gereizt, mit einem Unternehmen zu arbeiten und einen ›echten‹ Beitrag zu leisten, in der Hoffnung, dass das Produkt im Markt erscheint«, sagt Anton Rauschen, Student im Bachelorstudiengang Wirtschaftsingenieurwesen und Mitglied der »Ordanic«-Arbeitsgruppe.
 
Dass die Studenten der FH Bielefeld überhaupt die Möglichkeit haben, ein solches Modul zu belegen, sei etwas Besonderes, hebt Professorin Schwenzfeier-Hellkamp hervor: »Ein eigenes Modul zu zirkulären Wertschöpfung gibt es in Nordrhein-Westfalen nur an der FH Bielefeld.« Der Fachbereich IuM hat das Modul »Zirkuläre Wertschöpfung nach Cradle to Cradle« erstmals 2017 angeboten. Das Modul ist sowohl für Studenten aus dem Studiengang »Regenerative Energien« als auch Wirtschaftsingenieurwesen geöffnet. Eine weitere Besonderheit: Lehre und Forschung sind in dem Modul eng miteinander verknüpft. Damit schließt es an die Themen des Instituts für Technische Energie-Systeme (ITES) an und die Studierenden können schon während ihres Studiums forschungsnahe Projekte übernehmen.