Bei der Erforschung der Welleneigenschaften von Atomen entsteht am Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen für wenige Sekunden einer der »kältesten Orte des Universums«. Der Temperaturrekord nahe dem absoluten Nullpunkt ist aber nicht mit einem Thermometer messbar, sondern ergibt sich aufgrund der extrem verlangsamten Bewegung der beobachteten Atome in einem ultrakalten Gas – einem Bose-Einstein Kondensat (BEK). Mit Hilfe eines neuentwickelten Materiewellenlinsensystems konnte die Bewegung in bislang unerreichter Weise reduziert und dies durch Beobachtung des BEK über zwei Sekunden im freien Fall im Fallturm Bremen nachgewiesen werden.
Ein BEK stellt einen besonderen Quanten-Zustand von Materie dar, der bei tiefsten Temperaturen auftritt und bei dem die einzelnen Atome gewissermaßen eine einzige zusammenhängende Materiewelle bilden. Mit derartigen Materiewellen lassen sich ganz analog zu Lichtwellen sehr empfindliche Messinstrumente bauen, sogenannte Interferometer, um damit beispielsweise Rotationen, Beschleunigungen oder kleinste Änderungen der auf die Atome wirkenden Schwerkraft zu vermessen. Ersteres kann zu einer genaueren Navigation eingesetzt, letzteres für Tests fundamentaler physikalischer Theorien verwendet werden. Die Schwierigkeit dabei: Das bereits sehr kalte BEK besitzt immer noch eine geringe innere Energie, die die Atome auseinandertreibt. Diese geringfügige Ausdehnung macht es dennoch unmöglich ein frei fallendes BEK in den genannten Anwendungen für längere und damit genauere Messungen einzusetzen.
Forschern der Leibniz Universität Hannover, des ZARM an der Universität Bremen, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist es nun im Rahmen des »Quantus«-Projektes gelungen, ein Materiewellenlinsensystem zu entwickeln, welches die Expansion – und damit letztlich den Zerfall – des BEK aufhält. Mit diesem Materiewellenlinsensystem war es möglich, die interne kinetische Energie eines BEK mit 100.000 Atomen stärker als je zuvor zu reduzieren. Das bedeutet, die Bewegung der Atome innerhalb des BEK konnte so verlangsamt werden, dass eine effektive Temperatur von 38 Pikokelvin über dem absoluten Temperaturnullpunkt erreicht wurde. Das entspricht 38 Billionstel Grad über minus 273 Grad Celsius – ein absoluter Minusrekord. Nachgewiesen wurde dies schließlich in einer Reihe von Experimenten im Fallturm Bremen, wobei die verlangsamte Expansion über bis zu zwei Sekunden beobachtet werden konnte. Zudem deuten Computersimulationen darauf hin, dass das BEK mit Hilfe des Materiewellenlinsensystems theoretisch sogar für 17 Sekunden in Schwerelosigkeit aufrechterhalten werden kann – die Voraussetzung für künftige Messungen höchster Präzision in ausgedehnter Schwerelosigkeit, etwa auf einem Satelliten.
Der Versuchsaufbau
Erzeugt wird das BEK in einer magnetischen Falle, nach deren Abschalten es zunächst in allen drei Raumrichtungen expandiert. Durch eine magnetische Linse konnte diese Expansion zwar bereits in der Vergangenheit verlangsamt und die Materiewelle kollimiert werden. Allerdings funktionierte dies aufgrund einer starken Asymmetrie der Magnetfalle nur in zwei Richtungen hinreichend gut. Um auch in der dritten Richtung die Ausdehnung aufzuhalten, konnten die Forscher:innen nun eine zuvor angeregte kollektive Schwingung der Atomwolke nutzen. Wird die durch diese Schwingung pulsierende Atomwolke zum richtigen Zeitpunkt aus der Falle entlassen, ist die Ausdehnung in der problematischen Richtung bereits stark reduziert, und der nachfolgende Einsatz der magnetischen Linse stoppt die Ausdehnung schließlich auch in den verbleibenden zwei Richtungen. Mit diesem Versuchsaufbau entstand im Fallturm Bremen das sich am langsamsten ausbreitende BEK und damit auch die kälteste derartige Atomwolke weltweit.
Die Arbeit entstand im Rahmen des DLR-Verbundprojektes »Quantus« und wurde durch das Centre for Quantum Engineering and Space-Time Research (QUEST), sowie die Deutsche Exzellenzstrategie »EXC 2123 Quantum-Frontiers« der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt.