Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für die »WirtschaftsWoche« am Freitag den folgenden Gastbeitrag …
Am Ende einer langen Amtszeit fragt man immer: Was wird bleiben? So war es bei den Kanzlern Konrad Adenauer und Helmut Kohl, bei Außenminister Hans-Dietrich Genscher, und so wird es auch in diesen Tagen und Wochen bei Angela Merkel sein, die dieses Land 16 Jahre als Bundeskanzlerin regierte. Es wäre dumm zu erklären, der Verlauf der Geschichte wäre genauso verlaufen, wäre Frau Merkel nicht seit 2005 im Kanzleramt gewesen. Natürlich war es entscheidend, dass sie im Verbund mit Peer Steinbrück 2008 behauptete, die Spareinlagen seien sicher. Selbstverständlich hat die spontane Entscheidung im September 2015, Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, dieses Land tief geprägt und verändert. Nicht zuletzt ihr Umgang mit der Pandemie wird in der historischen Rückbetrachtung nicht nur Licht, sondern ebenfalls einigen Schatten offenbaren.
Merkel verlässt das Kanzleramt zu einem besonderen Zeitpunkt. Wir müssen leider feststellen, dass das Deutschland des Jahres 2021 ein verunsichertes und fortschrittsmüdes Land ist. Ein Land, das nicht nur an einer rückständigen Digitalisierung krankt, an einer nicht mehr wettbewerbsfähigen Verkehrsinfrastruktur, an einem erschütternden außenpolitischen Bedeutungsverlust. Es ist auch ein Land mit einer völlig desolaten Debattenkultur, die – zumindest mir – große Sorgenfalten ins Gesicht treibt. Die Fähigkeit, sich auf einer gemeinsamen Wertebasis über einen besseren Weg zu streiten, ist uns offensichtlich verloren gegangen. Denn selbst die Frage, ob wir alle eine gemeinsame Grundlage haben, auf die wir uns verlässlich verständigen können, die Aufrechterhaltung der Meinungsfreiheit, wird mittlerweile tief in der gesellschaftlichen Mitte bestritten.
Und die Aggressivität des Tones, die auch von sogenannten »Meinungseliten« an den Tag gelegt wird, erschreckt mich zunehmend. Es hat sich eine argumentative Selbstgerechtigkeit in großen Teilen des öffentlichen Debattenraumes festgesetzt, die ich selbst nur von den damals ziemlich marginalisierten 68ern kannte.
In einer denkwürdigen »Zeit«-Diskussionsrunde erklärte der ZDF-Moderator Jan Böhmermann im Gespräch mit seinem Senderkollegen Markus Lanz am vergangenen Wochenende, dass Wissenschaftlern wie Hendrik Streeck oder Alexander Kekulé keine große öffentliche Bühne geboten werden dürfte. Deren fachliche Kompetenz sei schlicht nicht ausgeprägt, sagten angeblich »die Leute, die Ahnung haben«. Lanz lasse diese jedoch in seine Sendung und demnach Menschen zu Wort kommen, die »durchtränkt von Menschenfeindlichkeit« seien. Lanz, das muss man zur Ehrenrettung des ZDF hinzufügen, reagierte hart in der Sache und schlug seinen intellektuell überforderten Kollegen in die Seile. Die monatliche »Demokratieabgabe« wird bisweilen auch vernünftig eingesetzt.
Dennoch ist diese Episode beunruhigend, denn sie zeigt eine totalitäre Weltsicht, die sich mittlerweile in unserem Land Bahn bricht. Schon das Konzept der »False Balance« stößt an die Grenzen der Aufklärung. Denn wer definiert eigentlich, was abschließend richtig ist und was falsch? Ich jedenfalls möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der ein aktivistischer ZDF-Moderator diese Definition für alle vornehmen darf. Gesellschaftlicher Fortschritt gründet auf einem Aushandlungsprozess, der nur über die Freiheit der Meinung artikuliert werden kann. Ein ordnender Eingriff von »oben« verhindert sowohl die notwendige Entladung von gesellschaftlichen Konflikten als auch die Ausbildung des Fortschritts. Einen solchen Eingriff nennt man gemeinhin »Zensur«. Und diese Denkweise trägt quasi-religiöse Züge. In der Annahme, dass »Leute, die Ahnung haben«, »die« wissenschaftliche Wahrheit verkündeten, verfällt man in einen Glaubenskrieg. So kann Streeck nur die Unwahrheit erzählen, selbst wenn er – wie sich später herausstellt – richtig sagt, dass wir mit dem Virus werden leben müssen. Und so befindet sich – um ein Gegenbeispiel zu nennen – der als Counterpart dargestellte Virologe Christian Drosten stets auf der richtigen Seite der Wahrheit, selbst wenn er im Nachhinein falsch liegt. Im christlichen Glauben mag dieses Konzept noch seine Berechtigung gehabt haben, Gottes Wege sind unergründlich. Wissenschaftlich betrachtet ist es jedoch einigermaßen dumm.
Selbstverständlich kann man der Kanzlerin nicht ankreiden, was ein argumentativ hilfloser TV-Clown für verfassungsfeindliche Gedanken ventiliert. Man muss jedoch feststellen, dass es in den vergangenen 16 Jahren kaum diskursive Einlassungen aus dem Kanzleramt gab und ein demokratisches Ringen um Lösungen möglichst nicht stattfinden sollte. Zur Politik der Kanzlerin gehörte, sie nicht zu erklären. So hat die Kanzlerin stets auf Diskursvermeidung geachtet und damit eine Verhärtung des allgemeinen Meinungsklimas zumindest unterstützt. Wo nicht gestritten wird, kann sich auch nichts entladen. Und wo es nicht mehr normal ist, zu streiten, sind solche Meinungsverbotsausfälle von maßgeblichen Influencern mit Millionenfollowerschaft zu erklären. Daher würde ich mir vom künftigen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland eines wünschen: Dass er wieder selbst teilnimmt an der öffentlichen Meinungsbildung und versucht, die Menschen im Land von seinem Weg zu überzeugen. Wir brauchen wieder Mut zur Debatte, und auf der anderen Seite Mut zum respektvollen Widerspruch. Dies hilft viel mehr, unsere Gesellschaft zu befrieden und den Fortschritt zu beschreiben, als die alte German Angst.