Gütersloh, Ansprache des Vorsitzenden des Forums Russische Kultur Gütersloh, Dr. Günter Bönig, auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof in Stukenbrock-Senne am 9. Mai 2022
Wir stehen hier vor einem Denkmal aus der schrecklichsten Zeit des Unrechtes, der Entwürdigung, der Verschleppung, der Vernichtung menschlichen Lebens durch Arbeit und Hunger durch ein kriegstrunkenes Regime. Dieses Denkmal sollte ein Mahnmal der Erinnerung sein für die Botschaft: Nie wieder Krieg.
Jetzt ist wieder Krieg.
2019, als Franz Kiesl zum letzten Mal hier am 9. Mai eine Rede hielt, sprach er mit Erschütterung von einer Kurzmeldung aus der Zeitung: #NATO fordert Panzerfestigkeit der Straßen in Deutschland, um einen erwarteten russischen Angriff erfolgreich abzuwehren. Ein solches Ereignis war für ihn völlig unvorstellbar, er hatte #Russland als freundliches, friedliches Land kennengelernt: Aufrüstung gegen Russland? Unnötig, undenkbar. Wer wollte das gute deutsch russische Einvernehmen stören? Die Sowjetunion hatte Deutschland die Einheit geschenkt, es hatte sich eine gute wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit entwickelt, mit dem Forum Russische Kultur Gütersloh, seinem Lebenswerk, als dem größten deutsch russischen kulturellen Kontaktverein.
Franz Kiesl war 1935 geboren worden, hatte noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Manchmal ist es gut, wenn man etwas über Geschichte weiß, wenn man sie noch erlebt hat. Bei manchen Politikern der neuen Generation beginnt die erlebte Geschichte erst 1995, das politische Gedächtnis offenbar beim Waldsterben 1980. Krieg kennt man aus dem Fernsehen – oder aus Computerspielen, die wunderbar anschaulichen Bilder der Bombardierungen Bagdads oder die Liquidierungen der islamistischen Führer durch ferngesteuerte, angeblich superpräzise, quasi chirurgische Drohnen. Die sogenannten Kollateralschäden sind laut einem Bericht der NY Times vom Februar aber immer deutlich heruntergespielt worden.
Wie also ist es zu der heute grassierenden Kriegsbegeisterung gekommen, die an 1914 erinnert? Haben wir überhaupt eine Kriegsbegeisterung, oder wird sie nur herbeigeredet? Die politischen Umfragen sind ja endlich bei 50 Prozent für die Lieferung schwerer Waffen gegen Russland angekommen, vor einem Monat waren es noch nicht so viel. In der Zwischenzeit haben wir jeden Abend in der #Tagesschau eine Kurzansprache von Selenskyj bekommen, oder von seinem Botschafter, oder auch von beiden. Wir haben viele Bilder von schrecklichen Einzelschicksalen und Toten aus der Ukraine gesehen, aus dem Donbass allerdings nicht, jetzt nicht, und auch die letzten 6 Jahre nicht seit dem Abschluss des Minsk II Abkommens, das die russischen Minderheiten in der #Ukraine schützen sollte.
Warum ist das Minsk II Abkommen überhaupt nicht umgesetzt worden? Die #UNO hatte es doch abgesegnet.
Hierzu braucht man gar keine Geschichtskenntnisse mehr. Wir haben doch alle die aufrührenden Bilder vom Maidan Winter 2013/14 gesehen, die tapferen Kämpfer vom Maidan mit ihren Lagerfeuern, die vielen amerikanischen Besucher, die Geschenke verteilten, US Unterstaatssekretärin Victoria Nuland (die mit dem Spruch »Fuck the EU« in Europa berühmt wurde), auch der ehemalige Außenminister Westerwelle ging dort spazieren.
Der neue Außenminister Steinmeier handelte einen wichtigen Kompromiss mit der Janukowitsch Regierung aus, woraufhin Janukowitsch seine Spezialpolizei abzog. Als der Maidan die Waffen vertragswidrig nicht abgab und seine nun gewonnene Überlegenheit ausspielte und die Regierungsgebäude besetzte, konnte Steinmeier leider nichts mehr machen, setzte sich in sein Flugzeug und flog nach Hause. Das haben wir alle damals im Fernsehen gesehen und uns gefreut, dass in der Ukraine nun endlich die Freiheit angekommen war.
Für die Russen in der Ukraine war das allerdings nicht so gut, binnen Tagen wurden ihre Rechte beschnitten, ihre Sprache als Amtssprache abgeschafft, ihre Abgeordneten durften nicht mehr ins Parlament, nicht verboten seitens der Regierung, aber von den Milizen daran gehindert.
Putin hat daraufhin die Krim besetzt, angeblich um die 80 Prozent ethnischen Russen dort zu schützen, sicher aber auch um seinen strategischen Hafen Sewastopol zu behalten. Aber könnte es nicht doch auch im Interesse der dortigen Bevölkerung gewesen sein? Also keine Annexion, sondern eine Sezession? Oder etwas von beidem? Das wäre nicht die erste Sezession der Weltgeschichte, auch 1776 gab es schon eine sehr erfolgreiche.
Im Donbass griff Putin nicht ein, zumindest nicht mit regulären Truppen, nur mit Waffenlieferungen und Militärberatern. Dort gab es seitdem fortwährende Scharmützel und Tausende von Opfern auf beiden Seiten, im Gegensatz zur Krim, wo kein Schuss fiel. In der Ukraine liefert der Westen jetzt auch Waffen und hilft mit Militärberatern und Freiwilligen. Das gilt aber völkerrechtlich nicht als problematisch, wissen wir seitdem.
Das Minsk II Abkommen, ausgehandelt von Merkel und Sarkozy, sollte für die russischen Minderheiten in der Ukraine Minderheitenrechte (wie zum Beispiel in Südtirol) sichern. Das Abkommen wurde vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko aber nie ins Parlament gebracht. Selenskyj hat es letzten Sommer aufgekündigt.
Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war völkerrechtswidrig, das hat das Forum auch sofort entschieden verurteilt. Nun sagt der Papst letzte Woche, man müsse auch zu verstehen suchen, welche Gründe es dafür gab. Deswegen wolle er nach Moskau reisen, um mit Putin zu sprechen. Das wird von den deutschen Medien heftig kritisiert, weil Putin ein Verbrecher sei, ein »Killer« eben, wie Biden sagte, um dann anschließend mit Putin »konstruktiv« zu verhandeln.
Früher galt mal »ut audiatur altera pars«, aber das war noch bei den alten Römern. Vor Gericht gilt das Prinzip zwar noch, dass man die Gegenseite hört. Wer aber hier versucht, die Gegenseite zu verstehen, ist ein »Putinversteher«, und das ist nach Mainstream Meinung in Deutschland ein schlimmes Vergehen, zumindest moralisch. Seitdem kann die deutsche Presse moralisch über den Papst richten, das meint sie zumindest, seit sie die »wertebasierte« Außenpolitik von Heico Maas und Annalena Baerbock begleitet.
Wer den Ukrainekonflikt verstehen will, kommt an der Geschichte nicht ganz vorbei. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Grenze der Ukraine je nach Kriegsausgang mehrfach verschoben, was für die Bevölkerung bitter war. Besonders schlimm war die Lage zwischen Russland und der Ukraine nach der Oktoberrevolution: 1920/21 fanden dort viele Schlachten zwischen den Bolschewisten und der weißen Gegenrevolution statt. - Die Sieger waren jeweils nicht zimperlich.
Stalins Kollektivierungskampagne (ab 1928) gegen die Kulaken hatte einen Schwerpunkt in der Ukraine, weil es dort viele Großbauern gab. Dadurch und durch die anschließende Hungersnot sind in Russland geschätzt 14 Millionen Menschen umgekommen, wobei der Schwerpunkt in der Ukraine lag. Deswegen schlossen sich viele ukrainische Männer 1941 als Hilfstruppen der Deutschen Wehrmacht an, bildeten sogar eine eigene SS Division, kämpften also gegen die Sowjetunion. Bei Kriegsende haben die Sowjets natürlich Rache genommen. In dieser Zeit haben die Ukrainer viel einstecken müssen, und viele Rachegefühle aus dieser Zeit sind verständlich, obwohl die Russen vom Stalin-Terror im Prinzip genauso betroffen waren.
In einer solchen Situation wäre eine Einmischung von außen in dieses Pulverfass absolut zu vermeiden gewesen, um die Konflikte zu beruhigen. Wie man aber schon 2014 gesehen hat, haben die USA dort jetzt eigene Interessen. Deutschland hatte 70 Jahre lang die oberste Politikmaxime, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Diese Maxime ist innerhalb einer Woche gefallen, nachdem eine FDP- und Grünen-Delegation in Kiew war. Die Leitmedien hatten monatelang den Bundeskanzler vor sich hergetrieben und substantielle Waffenlieferungen in die Ukraine gefordert, sekundiert von den besagten Kriegsbildern aus der Ukraine und den Ansprachen von Selenskyj und Melnyk. Wie gesagt, eine Mehrheit in der Bevölkerung dafür gab es zu Anfang nicht, aber die Medien haben täglich vermittelt, dass es wichtig sei, und so ist die Stimmung allmählich gekippt.
Die Medien sind nicht als politische Macht in diesem Staate vorgesehen, sie sind nicht demokratisch gewählt. Die ÖRR Rundfunkmedien haben einen Auftrag zur ausgewogenen Berichterstattung; dennoch, sie berichten nicht mehr nur Fakten, sie bringen Einschätzungen, Bewertungen, Handlungsanweisungen für Politiker, sie versuchen, die Bürger zu ihrer Position zu beeinflussen. Und diese ist immer richtig, weil sie »wertebasiert« ist.
Solange Merkel an der Macht war, hatten sie recht, weil sie Merkels Politik unterstützten. Nachdem Merkel abtreten musste, haben sie recht, weil sie kritisieren, dass Merkel jahrelang eine falsche Friedenspolitik betrieben hat, eine falsche Energiepolitik, eine falsche Verkehrspolitik, eine falsche Finanzpolitik, eine falsche Gesundheitspolitik.
Lassen wir uns nicht von den Medien und der Außenministerin einreden, es sei allein Putins Sache, ob er aufgrund der westlichen Politik zur Atombombe greift. Angeblich sei die Wahrscheinlichkeit im Moment bei 30 Prozent. Da müsse man starke Nerven haben. - Sind wir wahnsinnig, dass wir die undenkbare Alternative Atomkrieg plötzlich einkalkulieren?
Der #NATO Rat hat laut einem Interview der letzten deutschen Verteidigungsministerin am 21. Oktober 2021 erörtert, eine »Nuklearwaffe« im Luftraum über Russland zu zünden, zum Zwecke der Abschreckung. Meint man, Putin habe das nicht gehört? Muss Russland sich da nicht bedroht fühlen? Es liegt sehr wohl auch an uns, welche Entscheidungen Putin im Kriegsgeschehen trifft.
Diese Nachricht wurde übrigens nicht in den Leitmedien veröffentlicht, ganz kurz erschien sie mal in den Online-Nachrichten, eine Stunde später war sie nicht mehr da. Aber auf DLF.de kann man sie noch nachlesen. Wären wohl auch 50 Prozent der Deutschen für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, wenn sie wüssten, dass der Westen schon Szenarien für einen Atomkrieg vorbereitet?
Der Dritte Weltkrieg ist so nah wie nie zuvor. Lassen wir es nicht soweit kommen.
Es muss endlich die Diplomatie sprechen. Verharren im eigenen Denken hat noch nie einen Konflikt gelöst.