Der Quallentrainer, Christian Albrechts Universität zu Kiel
- Studie aus Kiel und Kopenhagen zeigt erstmals, dass bereits einfache Nervensysteme lernen können
Kiel, 22. September 2023
#Quallen können aus Erfahrungen lernen, ähnlich wie der Mensch oder andere komplexe Lebewesen – das hat jetzt ein Team von Biologinnen und Biologen der Christian Albrechts #Universität zu Kiel (CAU) und der Universität Kopenhagen gezeigt. Sie trainierten karibische Würfelquallen (Tripedalia cystophora), Hindernisse zu erkennen und ihnen gezielt auszuweichen. Die #Studie zeigt, dass selbst einfach entwickelte Nervensysteme zu einer fortgeschrittenen Form des Lernens fähig sind. Das könnte darauf hindeuten, dass die evolutionären Wurzeln von Lernen und Gedächtnis älter sind als bisher angenommen. Möglicherweise waren sie von Anfang an einer der wichtigsten evolutionären Vorteile von Lebewesen mit Nervensystemen. Die Studie erscheint am 22. September 2023 in der #Fachzeitschrift »Current #Biology«.
Sie ist nicht größer als ein Fingernagel, sehr einfach aufgebaut und besitzt nur wenige Nervenzellen. Und doch verfügt die Würfelqualle über ein komplexes Sehsystem mit 24 Augen. Damit navigiert sie durch das trübe Wasser der karibischen Mangrovensümpfe, jagt Wasserflöhe und weicht Unterwasserwurzeln aus. »Obwohl es so einfache Tiere sind, haben sie ein beeindruckendes räumliches Sehvermögen, das sie nutzen, um ihr Verhalten zu verändern«, beschreibt Dr. Jan Bielecki vom Physiologischen Institut der CAU den Reiz dieser Lebewesen, die er schon lange erforscht. Es fasziniere ihn, herauszufinden wie solche einfachen Nervensysteme zum Lernen fähig sind und was sich hierbei von der Natur auf technische Bereiche wie Robotik übertragen lasse.
Lernfähigkeit ist älter als bisher angenommen
Wie Bielecki und seine Kolleginnen und Kollegen von der #Universität #Kopenhagen jetzt erstmals nachgewiesen haben, können Würfelquallen sich die Fähigkeit, Hindernissen auszuweichen, durch assoziatives Lernen aneignen. Das heißt, ein Organismus ändert sein Verhalten oder seine Einstellung aufgrund einer gemachten Erfahrung. »Das ist eine höhere Form des Lernens, als man von so einem Lebewesen erwarten würde«, sagt Bielecki, der die Quallen in seinem Labor trainiert. Evolutionär gesehen gehören die Würfelquallen zu den ersten Tieren mit einem Nervensystem. »Wenn bereits diese Tiere in der Lage sind zu lernen, könnte es sich um eine grundlegende Fähigkeit von Nervenzellen oder neuronalen Netzwerken handeln. Das weist darauf hin, dass sie seit dem Beginn der Evolution existiert und damit früher als bisher in der Forschung angenommen.«
Für seine Experimente simulierte das Forschungsteam den natürlichen Lebensraum der Qualle mit einem Wasserbecken und grauen und weißen Streifen an der Innenwand. Die grauen Streifen stellten die Mangrovenwurzeln dar, denen es auszuweichen galt, die weißen Streifen die Wasserumgebung. Über Farbkontraste nimmt die Würfelqualle räumliche Entfernungen wahr, daher variierten die Forschenden die Kontraste im Verlauf des Experiments.
Zu Beginn des Experiments stießen die Quallen noch häufig gegen die simulierten Wurzeln an der Beckenwand. Doch schon nach wenigen Minuten hatten sie ihren durchschnittlichen Abstand dazu bereits um etwa 50 Prozent vergrößert und prallten nur noch halb so oft dagegen. »Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Quallen durch die Kombination von visuellen und mechanischen Reizerfahrungen lernen können«, sagt Anders Garm, Professor für Meeresbiologie an der Universität Kopenhagen, Dänemark.
Bezug zum Alltag steigert den Lernerfolg der Würfelqualle
»Wie schnell diese Quallen gelernt haben, hat uns wirklich überrascht«, sagt Bielecki. Das liege vor allem daran, dass die Forschenden mit einem natürlichen Verhalten der Tiere gearbeitet haben. Hindernissen auszuweichen, kennen die Quallen aus ihrem Alltag, es ist für sie ein »sinnvolles« Verhalten. »Lernen bedeutet, etwas Neues mit etwas Bekanntem zu verknüpfen. Das macht Lernen zu einem sehr individuellen Prozess.« In der Biologie spricht man auch von »SSDR«, Species specific Defense Reaction, wenn es sich um ein sehr artspezifisches Verhalten handelt.
Um die zugrunde liegenden Prozesse des assoziativen Lernens bei der Würfelqualle besser zu verstehen, isolierte Bielecki anschließend die visuellen Sinneszentren der Tiere, die sogenannten Rhopalia. Jedes der vier Zentren enthält sechs Augen, aber nur 1.000 Nervenzellen. Außerdem werden hier elektrische Signale erzeugt, die die Bewegungen der Qualle steuern. Bielecki zeigte dem Rhopalium sich bewegende graue Balken, um zu simulieren, dass sich die Qualle einem Hindernis annähert. Doch erst als er dem Rhopalium schwache elektrische Stimuli zufügte – damit simulierte er einen Aufprall an der Wand – reagierte es und erzeugte Signale, die die Qualle zum Ausweichen bringt. Damit konnte Bielecki nicht nur das Verhalten der Quallen ändern, sondern auch erstmals den Ort ihrer Lernprozesse in ihren Rhopalia lokalisieren.
Evolutionäre Erkenntnisse auf technische Mustererkennung übertragen
»Wenn man komplexe Strukturen wie das Nervensystem verstehen will, hilft es, zunächst möglichst einfache Strukturen zu untersuchen«, sagt Bielecki. »So ist es oft leichter, Zusammenhänge zu verstehen und sie anschließend zu übertragen.« Genau das will er im Sonderforschungsbereich 1461 »Neuroelektronik« umsetzen, in den die Ergebnisse der Studie einfließen. Der interdisziplinäre Forschungsverbund an der CAU, in dem Bielecki Mitglied ist, untersucht, wie sich Prinzipien aus der biologischen Informationsverarbeitung auf technische Systeme übertragen lassen.
»Dass die Würfelqualle mit so wenigen Nervenzellen Muster erkennen kann, macht sie zu einem idealen Modellorganismus für unsere Forschung«, sagt SFB Sprecher Professor Hermann Kohlstedt von der CAU. Ziel des Großforschungsprojekts ist es, Hardware wie elektronische Schaltkreise zu entwickeln, die beispielsweise zur Mustererkennung eingesetzt werden können. »Bisher läuft das über Computersoftware, die dabei aber viel Energie verbraucht. Doch aus der #Natur und der #Evolution wissen wir, dass es sehr viel energieeffizientere Wege gibt, Informationen zu verarbeiten.«
Über den Sonderforschungsbereich 1461 »Neuroelektronik«
Seit Anfang 2021 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den SFB 1461 »Neuroelektronik: Biologisch inspirierte Informationsverarbeitung« mit rund 11,5 Millionen Euro für zunächst 4 Jahre. Hier wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Neurowissenschaften, #Biologie, #Psychologie, #Physik, #Elektrotechnik, Materialwissenschaften, Netzwerkwissenschaften und nichtlinearer Dynamik neue Hardware für die Informationsverarbeitung entwickeln. Ziel ist, Erkenntnisse über die Informationswege in Nervensystemen auf die technische Informationsverarbeitung zu übertragen, um zum Beispiel die Muster und Spracherkennung oder die Energieeffizienz bestehender Systeme zu verbessern. Partnerinstitutionen neben der CAU als Sprecherhochschule sind: Ruhr Universität Bochum, Technische Universität Ilmenau, Leibniz Institut für innovative Mikroelektronik Frankfurt/Oder, Leibniz Institut für die Pädagogik der #Naturwissenschaften und #Mathematik Kiel, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf und Technische Hochschule Lübeck. Mehr …