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Ob durch Abgas- oder Maskenskandale oder von der Industrielobby geschaltete, großflächige Anzeigenkampagnen – dass einige Entscheidungen in der Politik weniger im Interesse des Volkes als im Interesse einer kleinen Gruppe von Profiteuren getroffen werden, ist nicht zu übersehen. Der Politiker und Journalist Marco Bülow ist seit fast 20 Jahren gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestags und kennt die Spielregeln der Berliner Politikblase sowohl als Mitglied der SPD, als auch als fraktionsloser Abgeordneter. 2018 trat er nach 27 Jahren aus der SPD aus und zwei Jahre später in »Die Partei« ein. Im Zentrum seiner Arbeit stehen neben Umweltthemen der Kampf gegen Profitlobbyismus, für mehr Transparenz und eine soziale Wende. Marco Bülow engagiert sich dafür, progressive Bewegungen in den Bundestag zu holen und den Dialog zwischen Bevölkerung und Politik zu fördern. In seinem neuen Buch Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft (Verlag Das Neue Berlin) zeigt er nun, warum wir dringend einen Kulturwandel in der Politik brauchen, um die Krisen unserer Zeit wirklich lösen zu können, statt sie weiter zu verschärfen. Um Politikverdrossene wieder zu erreichen und zu aktivieren, statt sie rechtsextremen Parteien in die Arme zu treiben. Und um eine lebenswerte Umwelt zu erhalten – auch für die, die nach uns kommen.
Als fraktionsloser Abgeordneter ist Marco Bülow nur seinem Gewissen verpflichtet und beleuchtet die dunklen Ecken des verkrusteten Systems, das von profitlobbyistischen Interessen gesteuert wird und mit Methoden der Vergangenheit die Probleme der Zukunft lösen möchte. Marco Bülow räumt mit neoliberalen Mythen auf, zeigt Wege für eine neue politische Landschaft und entwirft eine Vision einer lebenswerten Zukunft – mit einem Politikkodex, der echte Transparenz gewährleistet und einer demokratischen Wirtschaft. Begleitend zum Buch nehmen Marco Bülow und Demokratie-Aktivistin Sabrina Hofmann ab Juli auch im Podcast »Lobbyland« den politischen Betrieb im Hinblick auf den Ausverkauf unserer Demokratie und den einseitigen Lobbyismus unter die Lupe.
Politik ist immer ein Kompromiss zwischen verschiedenen Interessengruppen. Doch warum gelten für Fussballstadien offenbar andere Regeln bei der Pandemiebekämpfung als für Schulen? Warum wird so viel Last auf Eltern und ins Private abgewalzt, aber nicht auf die Dax-Unternehmen? Und warum werden die Bedürfnisse von Alleinerziehenden so wenig mitbedacht? Es ist kein Zufall, dass sich immer mehr Menschen immer weniger in den Entscheidungen berücksichtigt fühlen, denn Profitlobbyismus hat zur Folge, dass Politik in Deutschland überwiegend für kleine wohlhabende Gruppen gemacht wird. Nicht ohne Grund haben Petitionen derzeit Konjunktur: sie zeigen den Beteiligungswillen der Bevölkerung und sind gleichzeitig ein Hilferuf, weil sich viele Interessengruppen von der derzeitigen Politik nicht mehr gehört fühlen und ein starkes Ungleichgewicht in der Interessenvertretung herrscht.
Der Kern der Demokratie besagt, dass der Mensch, die Bevölkerung, im Mittelpunkt steht. Doch auch der Bundestag ist eine Bubble: Die meisten Profipolitiker stammen aus einem eher vermögenden Bildungsbürgermilieu. Die Lebenswirklichkeiten und Probleme von größeren Bevölkerungsschichten werden kaum wahrgenommen. Neben Resignation und Rückzug erleben wir daher Wutbürger:innen in ihren Echokammern der Empörung. Diese züchtet die etablierte Politik selbst, denn ohne starke Lobby wird man nur noch durch laute Entrüstung wahrgenommen. Im Grundgesetz steht ausdrücklich: »Sie sind Vertreter des ganzen Volkes«, doch schon der Frauenanteil ist derzeit so gering wie seit fast 20 Jahren nicht, von Diversität im Bezug auf andere Faktoren ganz zu schweigen: es gibt prozentual zum Anteil in der Bevölkerung auch zu wenig Menschen mit Behinderung, Dorfbewohner, Alleinstehende oder auch zu wenig Hauptschüler:innen. Kann ein Bundestag auch die Interessen jener Bevölkerungsgruppen wirksam vertreten, die sich nur spärlich oder fast gar nicht in seinen Reihen wiederfinden? Wer sich nicht vertreten fühlt, der zieht sich zurück, beteiligt sich nicht mehr. »Wir verweilen im politischen Berlin in einer Wohlstands-Bubble, die das wonnige Lobbyland umschlungen hält. Krisen erkennen wir nur, wenn Viren zuschlagen. Wir haben ein Lobbyparlament, eine Repräsentation für die Wenigen etabliert. Diejenigen, die sich abwenden, haben das richtige Bauchgefühl, denn sie sind den meisten Profipolitikern egal«, so Marco Bülow.
Wir stecken auch im Wahljahr in einer Demokratiekrise. Das Wort »Krise« leitet sich vom griechischen Wort krÃsis ab und bezeichnet nicht nur eine bedenkliche Lage: es bedeutet auch »Wendepunkt«. An genauso einem Wendepunkt stehen wir: Marco Bülow zeigt in »Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft«Â nicht nur auf, wie es dazu gekommen ist, sondern auch, wie eine zukunftsgewandte Politik mit einer lebenswerten Zukunft für alle aussehen könnte. Wie können wir Profitlobbyismus eindämmen? Wie schaffen wir wieder mehr Teilhabe? Wie befreien wir uns davon, dass wir hauptsächlich zu Arbeitskräften, Konsumenten und Teilzeitwählern degradiert wurden? Wie verändern, revolutionieren wir unsere Demokratie – damit wir die wirklichen Krisen bewältigen können?
Der langjährige Profipolitiker fordert einen Kulturwandel hin zu einer Demokratie mit echter Beteiligung, echtem Austausch, echter Resonanz: Dazu gehören unter anderem ein niedrigeres Wahlalter, Wahlrecht für alle, die längere Zeit in Deutschland leben und hier Pflichten erfüllen, Bürger:innenräte als dritte Demokratiesäule, Abschaffung des Fraktionszwang für Gewissensfreiheit in den Parlamenten und mehr Transparenz für Volksvertreter gemäß einem Politikkodex sowie neue offene Parteien, Räte und Plattformen, in denen Bürger sich engagieren und mitbestimmen können.
Marco Bülow sieht eine demokratische Wirtschaft, in deren Mittelpunkt die Menschen stehen, als Ziel. Denn was heute produziert wird, richtet sich nicht nur nach dem wirklichen Bedarf, sondern allzu oft nach dem, was künstlich an Verlangen erzeugt wurde. Wir müssen jedoch selbst entscheiden, was wachsen und was schrumpfen soll. Gewinne können erzielt werden, vor allem, wenn man die externen Kosten gering hält, also nachhaltig produziert. Die Produktion muss ökologisch und sozial verträglich, die Produkte langlebig und reparabel sein, Unternehmen demokratisch mitbestimmt. Je größer sie sind, desto mehr Pflichten und Verantwortungen sollten sie tragen sie. Am Ende muss eine Kreislaufwirtschaft stehen, in der alle Ressourcen sich dauerhaft erneuern oder ersetzt werden können und nur Abfall erzeugt wird, der in den Kreislauf zurückgeführt wird. Klimagase und Schadstoffe dürfen die eng gesetzten Grenzen nicht überschreiten, in denen sie im gleichen Zeitraum abgebaut werden können. Konzepte wie die Gemeinwohlwirtschaft, von der englischen Ökonomin Kate Raworth etwa als Theorie der »Donut-Ökonomie« ausgearbeitet, können den Weg weisen. Ihre Grundlage muss sein, dass möglichst viele Menschen davon profitieren und nicht ausgebeutet werden. Bei einer gerechteren Verteilung könnte Arbeit begrenzt werden und trotzdem könnten wir besser leben.
Eine Utopie? Muss es nicht bleiben! Denn genauso wenig konnten sich Jäger und Sammler vorstellen, dass sie irgendwann einmal sesshaft werden, geschweige denn, dass Menschen Maschinen bauen, die um die Welt fliegen können. Egal wie einfallsreich wir auch sind, wir können uns ein alternatives, zukünftiges Leben in der Politik nicht vorstellen. Im Gegenteil. Diejenigen, die es können, werden verlacht. Dabei haben wir Menschen die Erfahrung gemacht, dass sich immer alles verändert. Auch unser wirtschaftliches und politisches System ist kein Endpunkt. Die derzeitige Politik orientiert sich an der Vergangenheit, nicht an der Zukunft, und ist die Umkehrung von »for the many, not the few«. Finanzwende, Sozialwende, Agrarwende, Energiewende, Verkehrswende – die Liste der Bereiche, in der sich etwas tun muss, ist lang. Allein das zeigt, dass es nicht um eine oder einige wenige Reformen geht, sondern dass eine Grundsanierung ansteht.
Rebel for Life ist der passende Kampfbegriff vieler internationaler Klima- und Umweltaktivistinnen dazu: Radikal, demokratisch und friedlich, aber nicht brav und unterwürfig. Marco Bülow beschreibt sich selbst als »einen radikalen Realisten, einen idealistischen Demokraten ohne Illusionen. Aber ich bleibe auch Sozialdemokrat, egal wo ich mich engagiere. Damit kann man hadern, wie auch mit meiner neuen Partei. Die ›Partei‹ zeigt auf, wie absurd die herrschende Politik ist und welche Missstände es gibt. Mit ihren Mitteln. Klar ist: das Alte zerfällt, und das Neue muss in die Welt. Dafür brauchen wir Ideale, Aktivismus, die Bewegungen auf der Straße. Der Widerstand muss vielfältig sein. Wir brauchen auch die Satire und die Disruptoren. Im Zusammenspiel kann es gelingen, die Fassade einzureißen und die unfairen Spielregeln zu ändern.«Â Als Realist weiß er, dass es ums Ganze geht, dass Zuschauen oder Resignieren keine Optionen mehr sind. Wir brauchen den Aufbruch in eine demokratische Moderne: im Kopf, im Bauch, im Herzen.
Transparenz in der Politik fordern alle – wie ist sie zu machen?
»Dem deutschen Volke« lautet die Inschrift über dem Portal des Reichstagsgebäudes in Berlin. Doch die Bevölkerung ist in unserer heutigen Form der Demokratie ein Akteur ohne nennenswerten Einfluss. Abgeordnete, die die Interessen der Menschen vertreten? Pustekuchen! Lobbykontakte und elitäre Netzwerke sind entscheidend. Monopoly scheint wie ein gerechtes Spiel dagegen.
Wir müssen die Spielregeln unserer Demokratie ändern! Wir brauchen mehr Basis, mehr außerparlamentarische Bewegungen, brauchen Volksvertreter, die nicht bloß ihrem korrumpierbaren Gewissen verpflichtet sind. Dann gewinnen wir auch die Möglichkeit, die Coronakrise als Chance zu nutzen und die Millionen Menschen von Fridays for Future, die für eine bessere Politik demonstrieren, nicht der Klimaschmutzlobby zum Fraß vorzuwerfen.
Der Autor: Marco Bülow, geboren 1971 in Dortmund, ist Journalist und Politiker. Seit 2002 direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestags. 2018 trat Bülow nach 27 Jahren aus der SPD aus und zwei Jahre später in »Die Partei« ein.
Er engagiert sich dafür, progressive Bewegungen in den Bundestag zu holen und den Dialog zwischen Bevölkerung und Politik zu fördern. Im Zentrum seiner Arbeit stehen neben Umweltthemen der Kampf gegen Profitlobbyismus, für mehr Transparenz und eine soziale Wende.
12. September 2021, 13 Uhr, Die Weberei